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Unterartikel zu WALK WITH PRIDE - Entwurzelt, Erniedrigt, Enterbt.

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(Katte e.V. - AGNES) Sie werden von ihren Eltern bedroht, verkaufen ihren Körper, leben auf der Straße: verstoßene Homosexuelle Jugendliche finden in Brandenburg noch immer keine Zuflucht. Aus Anlass des CSD in Potsdam 2011 erneuert Katte e.V. seine Forderung nach einer angemessenen Zufluchtsstätte.
Ein Beispiel von 2010: Maurice (Name geändert) konnte den letzten Satz seines Vaters nicht vergessen. Sechs Wörter, die sein Leben zerstörten: "Du bist nicht länger mein Sohn." In der Nacht schleicht er sich aus dem Haus, seine Eltern liegen schlafend im Bett. Um 7 Uhr steht er mit gepacktem Koffer am Bahnsteig in Neuruppin. Der Zug geht nach Berlin. Er verabschiedet sich von niemandem. Nicht von seiner Mutter, seiner Oma, seinem Bruder.  Der Vater, gutausgebildeter Arzt mit muslimischem Migrationshintergrund, hat seinen Sohn verstoßen - weil er schwul ist.  
In Berlin angekommen irrt der 21-Jährige durch die Straßen. Er weiß nicht, wohin. Im Internet bietet ihm schließlich ein Unbekannter ein Bett an. Die Wohnung ist dreckig, es stinkt. Als er schlafen geht, wird der Fremde zudringlich, zwingt ihn in sein Bett. Drei Tage später zieht Maurice aus, zurück auf die Straße. Völlig erschöpft legt er sich in der ersten Nacht auf eine Parkbank im Tiergarten in der Nähe vom Bahnhof Zoo. Als er am Morgen aufwacht, hat ihm jemand Portemonnaie, Handy, Ausweis und Laptop gestohlen. Einer der Stricher aus der Jebenstrasse hinter dem Bahnhof Zoo nimmt ihn mit in eine der Boy-Bars in der Fuggerstrasse. Dort lernt er nun das Gesetz der Straße, als er über einen Bekannten das erste Mal Kontakt zu Katte e.V. hatte.

„Er kommt in der Folge dreimal zu uns, er fühlte sich hier in unserer familiären Atmosphäre wohl, mehr als in Berlin und hatte schnell Vertrauen zu uns gefasst. Allein wirklich helfen konnten wir ihm nicht“ berichtet Carsten Bock (43), MSM- Berater und Vorstandsmitglied von Katte e.V. „ Wir haben mit ihm zwar immer seine Situation erörtert und versucht Hilfsangebote zu vermitteln – nur tatsächliche Hilfe, die hier nötig wäre, können wir leider nicht bieten:  ein Dach über dem Kopf, ein eigenes Zimmer, ein sauberes Bett, pädagogische-, medizinische und psychologische Hilfe um das Erlebte zu verarbeiten, seinen Schulabschluss nachzumachen, eine Arbeit zusuchen, ein neues Leben aufzubauen“ Für das Jugendamt ist Maurice schon zu alt und für alle anderen Hilfsangebote, wie das Obdachlosenasyl im ehemaligen Nedlitzer Schweinestall nicht bereit. Spezielle Hilfsangebote für homosexuelle Jugendliche und junge Erwachsene fehlen uns leider noch immer, bedauert Carsten Bock diesen Zustand. Dabei sind die Anforderungen an solch ein Refugium sind nicht sehr hoch, ein großer Gemeinschaftsraum, mehrere kleine Zimmer, eine Küche, zwei Computerplätze- so stellt man sich bei Katte e.V. die Not- und Übergangswohnung vor.

Die entsprechenden Informationen über weitere Hilfsangebote, Aidsprävention, Berufsberatung können wir zwar auch so schon jetzt weitergeben, erläutert C. Bock den Zustand, allein wenn wir sie nicht aus ihrem Umfeld herausnehmen können, hilft das entweder nur wenige Tage oder geht in den fehlenden Rahmenbedingungen unter.

Seit ihrer Gründung im Jahr 2003, seit 2006 als e.V., hat Katte e.V. fast 200 Betroffene betreut. Allein im vergangenen Jahr waren es 30, wie Carsten Bock, erzählt. Rund 75 Prozent der Betroffenen sind junge Männer, manche stammen aus muslimischen Familien, fast alle kommen vom Land. Vermutlich werden junge Schwule dank eines auf dem Land verbreiteten althergebrachten Männerbildes noch immer stärker ausgegrenzt, mit lesbischen Mädchen hat man, auch früher schon, immer weniger Probleme gehabt, hat diese Neigung eher akzeptiert. Gerade bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind Fragen der Ehre in der Herkunftsgesellschaft oft noch von herausragender Bedeutung – versucht Carsten Bock diesen signifikanten Unterschied zu erklären. Auch wenn die Opfer aus sämtlichen Regionen und sozialen Milieus stammen, bleibt laut Bock eines auffällig: Jeder dritte Hilfesuchende kommt aus einer gläubigen Familie - so wie Maurice obwohl diese prozentual in Brandenburg viel seltener vorkommen.

Der körperliche und seelische Zustand der Betroffenen ist zum Teil desolat. Viele haben sich auf der Straße durchgeschlagen, mit Drogen betäubt, den eigenen Körper verkauft. Andere wurden mit dem Tod bedroht. Sie sind verstört und schockiert, die Reste eines früheren Lebens in Müllsäcke verpackt. Während die deutsche Gesellschaft seit einigen Jahren aufgeschlossener und liberaler scheint, ist Homosexualität auf dem Land häufig ein Tabuthema. "Doch gerade in diesem ländlichen Umfeld wo jeder jeden kennt ist Homophobie für Jugendliche am brutalsten", sagt Bock. "Von ihrer Familie erwarten sie Unterstützung, keine Zurückweisung." Die Folgen sind oft gravierend: Betroffene kapseln sich von ihrer Umwelt ab, halten sich für wertlos oder wollen ihrem Leben ein Ende setzen. "Die Selbstmordrate ist bei homosexuellen Jugendlichen 13-mal höher als bei gleichaltrigen Heterosexuellen", so mehrere übereinstimmende einschlägige Studien.

Die katastrophale Betreuungslage junger Schwuler und Lesben erleben die Betroffenen seit vielen Jahren. Als Jugendliche fühlen sie sich unverstanden und einsam, suchen Gleichgesinnte. Doch spezielle Einrichtungen für junge Homosexuelle und ihre Belange gibt es nicht. Dafür zahlreiche Sozialarbeiter, die uns von ähnlichen Fällen berichteten. Und Anlaufstellen, die telefonische oder schriftliche Hilfe anbieten: Die anonyme Telefonberatung von Katte e.V. ist jeden Abend immerhin erreichbar – auf rein ehrenamtlicher Basis.

Um möglichst vielen helfen zu können, bemüht sich Katte e.V. seit Jahren um eine Lösung. Eine 2005 beabsichtigte Zusammenarbeit mit der Landeskoordinierungsstelle scheiterte an deren damaliger Leiterin bzw. dem Vorstand des Trägervereins. Auch der vor 2 Jahren mit viel Elan gestartete Verein Positiv Wohnen e.V., der sich auch dieser Jugendlichen annehmen wollte ist noch immer von der fehlenden Einigung der im MSM-Bereich tätigen Brandenburger AIDS-Hilfen blockiert und hat (wie Katte e.V.) noch nichtmal die Aufnahme in die  DAH geschafft.

Eine andere Möglichkeit, so Carsten Bock weiter, ist natürlich auch immer die Zusammenführung der zerrütteten Familien. Auf Wunsch seiner Betroffenen organisiert Carsten Bock, der auch auf fast 10 Jahre Erfahrungen in der Streitschlichtung als Leiter der Potsdamer Schiedsstelle von 1993-2002 zurückblicken kann, Vermittlungsgespräche mit den Eltern, bei denen, im Beisein der Vermittler, Eltern und Kinder versuchen, sich einander wieder anzunähern. Eine Aussöhnung ist immer schwierig, oft scheitert sie. Zu tief sitzen gegenseitige Verletzungen und Erniedrigungen. "Nur einer von zwei Jugendlichen", sagt Carsten Bock zusammenfassend "findet zu seiner Familie zurück."

Maurice ist mittlerweile seit über einem Jahr auch HIV Positiv und lebt zur Zeit in Berlin in einer WG ohne konkrete Hilfe und schlägt sich mit Gelegenheitsprostitution durch, die er zumeist in den Internetportalen gayromeo, gayroyal, homo.net und barebackcity anbietet. Beim Arzt war er mangels Krankenversicherung schon seit Montane nicht. Seinen Eltern in der Nähe von Neuruppin hat er bis heute nichts erzählt und lehnt auch jeglichen Kontakt zu Ihnen ab. Viele ältere Männer wollen Sex ohne Kondom mit ihm, schilderte er uns neulich am Telefon, oft haben sie Erektionsprobleme, Diabetes oder andere Krankheiten. Auf die Frage, wie er da mit seiner HIV-Infektion umgeht, entgegnete er: Mir doch egal – irgend so‘n Arsch hat mich infiziert – da geb ich‘s halt irgend so einem Arsch wieder zurück. Die Kosten, die da in der Behandlung auf die Gesellschaft zukommen, stellt Carsten Bock schon ein wenig resignierend fest, werden ein Vielfaches betragen, von den Kosten einer Notunterkunft in Potsdam, die ihm hätte neue Wurzeln geben können.